Die Erinnerungen eines Chirurgen
«Es fielen Bomben, während ich ein Mädchen operierte, das von der herabfallenden Decke ihres Zuhauses verletzt worden war. Ich habe sie im Licht einer Taschenlampe operiert. Das wird mir mein ganzes Leben lang in Erinnerung bleiben», sagt Volodymyr, ein Chirurg aus der Ukraine.
Volodymyr lebt in einer Stadt 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Er war gerade bei der Arbeit, als er am 24. Februar letzten Jahres die ersten Explosionen hörte. «Mein Haus kann man vom Spital aus sehen. In den ersten Tagen schlugen dort die Raketen ein und alle Wohnungen brannten ab. Deshalb musste ich im Spital wohnen», erzählt Volodymyr. Wir treffen den Arzt im Operationssaal, wo die Reparaturmassnahmen in vollem Gange sind. Ich bin beeindruckt von seiner Bereitwilligkeit, seine Geschichte zu erzählen. Doch was ich dann später zu hören bekam, löste auch bei mir bei mir zuweilen Beklemmungen aus.
Leben während der Besatzung
Der Arzt beschreibt, wie das Spital ständig von Panzern beschossen wurde. Deshalb war das Personal gezwungen, die erkrankten Menschen in den Keller zu verlegen, aber es gelang ihnen nicht, alle rechtzeitig dorthin zu bringen, bevor es erneut zu Explosionen kam. «Wir hatten zwei Frauen, denen die Beine fehlten, also mussten wir sie in ihren Zimmern lassen und einfach auf den Boden legen», sagt Volodymyr. «Als der Beschuss endete, verliessen wir den Keller und halfen allen anderen», fügt Volodymyr hinzu.
«Ab dem 18. März 2022 gab es weder Licht noch Mobilfunkverbindung noch Wasser. Bis dahin gab es Gott sei Dank immerhin Licht. Wir hatten auch einen Generator und Wasservorräte. Also richteten wir im Keller eine Küche ein und dort kochte der Krankenwagenfahrer Suppe für uns. «Wir haben gegessen, die Erkrankten mit Nahrung versorgt, aber auch die Menschen, die in der Nähe wohnten und sich vor dem Beschuss versteckten», sagt Volodymyr.
Die schlimmsten Momente
«Nachts kamen zwei Männer barfuss durch den Schnee angelaufen, nur mit Unterhosen bekleidet. Sie waren alle blutüberströmt, weil eine Bombe in ihr Haus eingeschlagen war. Sie stiegen durch ein Fenster ins Spital. «Ich habe ihre Wunden im Licht einer Taschenlampe genäht», berichtet Volodymyr. Solche Fälle waren keine Ausnahme. Der Arzt schaut aus dem Fenster und erinnerte sich an die Ereignisse des vergangenen Jahres.
«Einmal habe ich unter Bombenbeschuss ein Mädchen operiert, das verletzt worden war, als die Decke ihres Zuhauses einstürzte. Ich habe sie im Licht einer Taschenlampe operiert. Nach zwei Tagen hatte sie sich soweit erholt, dass sie das Spital verlassen und zu ihren Verwandten in eine andere Stadt fahren konnte. Ich bewundere ihren Mut und ihre Durchhaltekraft, weil ich weiss, wie weh es tut», sagt Volodymyr.
«Leider gab es Fälle, in denen Menschen starben. Einmal wurde ein älterer Mann zu uns gebracht, der beim Überqueren eines Bahnübergang mit dem Fahrrad auf eine Landmine furh. Wir haben ihn operiert, aber er starb sieben Tage später. «Die Verletzungen waren einfach zu schwer», sagt Volodymyr traurig. Er nimmt mich in den Flur mit. Von den Fenstern aus sehen wir die Zelte, in denen die medizinischen Fachkräfte nach dem Ende der Besatzung Operationen durchführten, weil der Operationstrakt des Spitals völlig zerstört war.
Chirurgie im Freien
«Mit der Hilfe von Freiwilligen haben wir Zelte im Hof des Krankenhauses aufgestellt und angefangen, dort zu operieren. Aber die Bedingungen waren nicht gut, weil es so kalt war» , sagt Volodymyr.
«Jetzt wünsche ich mir, dass alle Reparaturen so schnell wie möglich abgeschlossen werden und wir wieder unserer Arbeit nachgehen können.» «Ich sage immer «wir», weil wir sieben weitere Fachkräfte haben, die wie ich für ihre Arbeit leben», erklärt Volodymyr mit einem Lächeln.
Medair hat für die Wiederinstandsetzung der chirurgischen Abteilung eines örtlichen Spitals gesorgt. Mit Hilfe grosszügiger Spenden konnten die Fenster ausgetauscht und die Decke und die Wände repariert werden.
Die Arbeit von Medair in der Ukraine wird neben anderen Gebern und Stiftungen von der Glückskette (CdB), dem UNHCR, PMU, Mission East und Tearfund New Zealand gefördert.
Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.
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