Leben unter Beschuss
Der 13. Mai wird Oleksandr für immer als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem sich alles änderte. Er erzählt: «Früh morgens, gegen 4 Uhr, wachte ich auf, weil ich dachte, ich hörte ein Moped die Strasse hinunterfahren. Wir haben hier eigentlich keine Mopeds. Ich wusste sofort, dass es eine Rakete war, die vorbeiflog.
Ich beschloss, nach draussen zu gehen, um zu sehen, was los war, denn zuvor hatte ich Schüsse gehört. Ich war leicht bekleidet. Plötzlich sah ich am Himmel einen sehr hellen Blitz. Der ganze Himmel färbte sich rot.»
Die erste Druckwelle schleuderte Oleksandr unter eine Bank. Alle Fenster in seinem Haus gingen zu Bruch, und das Glas wurde vollständig herausgesprengt. Oleksandr schaffte es, zurück ins Haus zu rennen und sich eine Jacke anzuziehen. Als er gerade das Haus verlassen wollte, gab es eine zweite Explosion. «Meine Nachbarin Valentyna rannte aus ihrem Haus, und ich sagte ihr, wir müssten hier weg, denn wir sahen eine riesige Rauchwolke und viele rote Blitze. Wir packten schnell einige wichtige Sachen und rannten zum sichereren Ende des Dorfes», so Oleksandr.
Nachdem sie den Tag im Versteck verbracht hatten, kehrten Oleksandr und seine Nachbarn vorsichtig in ihre Häuser zurück, um den Schaden zu begutachten. Er erzählt: «Als ich mein Haus sah, war ich sehr schockiert. Die Scheune war völlig zerstört, das Dach war eingestürzt und lag auf dem Boden, die Garage war schwer beschädigt. Die Türen standen weit offen, und die Schlösser waren verklemmt. Es ist heute noch schrecklich, wenn ich daran zurückdenke. Ich bin Gott sehr dankbar, dass meine Frau zu dieser Zeit in der Stadt bei der Arbeit war», sagt Oleksandr mit Traurigkeit in der Stimme.
Halyna, Oleksandrs Frau, erzählt uns, dass die Bewohner ihrer Strasse seit dem Angriff alle ihre Haustüren unverschlossen lassen, damit sie im Notfall schnell das Haus verlassen können: «Wir haben angefangen, unsere Autos auf der Strasse zu parken, damit wir schnell an einen sicheren Ort fahren können. Unser Enkel war von dem Lärm und dem Schrecken traumatisiert. Jetzt hält er sich bei Fliegeralarm oder lauten Geräuschen die Hände vor die Ohren und zittert unkontrolliert. Wir haben überlegt, ihn zu einem Spezialisten zu bringen, der ihm hilft, diese Angst zu überwinden. Wenn wir als Erwachsene schon solche Angst haben, können wir uns vorstellen, was Kinder durchmachen», sagt Halyna.
«Heute Morgen gab es einen Alarm, als wir noch im Bett lagen. Ich habe meine Frau gebeten, die Arbeiter zu wecken, die bis spät in die Nacht unser Dach repariert hatten. Sie sagte, sie bräuchten Ruhe, aber etwa 10-15 Minuten später hörten wir eine Explosion und sahen die Spuren von Raketen, die in der Nähe einschlugen. Wir hatten schreckliche Angst», fügt Oleksandr hinzu.
Oleksandr und Halyna haben bereits zwei Zimmer selbst restaurieren können, aber es gibt noch weitere Räume, die wiederhergerichtet werden müssen. «Wir haben Lehm gekauft und damit alle Risse geflickt. Mein Mann und ich haben sogar die Decken in den Zimmern angehoben, um das Haus wieder bewohnbar zu machen. Die Hilfe von Medair war uns wirklich eine Rettung», sagt Halyna.
Am Ende unseres Gesprächs sagte mir Oleksandr mit einem Lächeln im Gesicht: «Wir haben uns mental auf die Möglichkeit vorbereitet, dass gegen Ende des Winters der Beschuss zunehmen könnte. Wir sind besser vorbereitet als letztes Jahr. Wir haben Notfallpläne für den Fall, dass es keinen Strom oder keine Heizung gibt. Wir haben uns mit LED-Streifen, Brennholz und sogar einem Generator eingedeckt.»
Als das Ehepaar so ihre erschütternden Erlebnisse teilt, bin ich zutiefst beeindruckt von ihrer Resilienz und Entschlossenheit, Zerstörtes wiederaufzubauen und auch weiterhin mit Hoffnung durchs Leben zu gehen. In einem einzigen Augenblick hat sich für sie alles verändert und trotz der Herausforderungen, die der Konflikt mit sich gebracht hat, schauen sie nach vorne: ein Zeugnis für die Stärke des menschlichen Geistes im Angesicht des Unglücks.
Zu den Hilfemassnahmen von Medair in der westukrainischen Region Chmelnyzkyj gehört die Reparatur von Privatgebäuden, die bei Raketeneinschlägen beschädigt wurden. Für die Betroffenen ist diese Unterstützung vor allem vor dem Wintereinbruch von entscheidender Bedeutung. Dank dem Austausch von Türen und Fenstern, dem Schliessen von Schusslöchern in Hauswänden oder neu gedeckten Dächern werden die Menschen vor den tiefen Temperaturen und rauen Witterungsbedingungen geschützt. So kann ihnen erneut ein Gefühl von Sicherheit vermittelt und ihre Lebensqualität verbessert werden. Diese Massnahmen tragen zur Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft bei, indem sie den Menschen helfen, ihr Leben auch in widrigen Umständen mit neuer Hoffnung weiterzuführen.
Die Hilfemassnahmen von Medair in der westukrainischen Region Chmelnyzkyj werden vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) finanziert.
Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.