«Warum es wichtig ist, während Krisen in Frauen zu investieren»
Anlässlich des Internationalen Frauentags berichtet Anne Reitsema, Leiterin Internationale Programme bei Medair, über die spezifischen Herausforderungen, mit denen sich Frauen während Krisensituationen konfrontiert sehen. Auch legt sie dar, warum es wichtig ist, Nothilfeprogramme verstärkt auf Frauen auszurichten.
In den vergangenen 14 Jahren war ich mit Nothilfeteams von Medair in verschiedenen Ländern im Einsatz. Dazu gehören Somalia, der Sudan und der Südsudan. Obwohl jede Krise ihren ganz eigenen Charakter hat, gibt es auch viele Parallelen. Was immer wieder auffällt: Es sind vor allem Frauen und Kinder, die während Krisen schwer zu leiden haben. Während Katastrophen und Konflikten sind insbesondere das Leben und die Würde von Frauen stark gefährdet. Selbstverständlich leiden auch Männer in Konfliktsituationen. Aber Frauen und Kinder sind inmitten von Chaos ganz spezifischen Bedrohungen ausgesetzt und dadurch ausgesprochen verwundbar.
1. Frauen sind oft alleine für ihre Kinder verantwortlich
Während Krisen steigt die Anzahl Frauen, die sich alleine um ihre Kinder kümmern müssen, dramatisch an. Ehemänner und Väter werden in hoher Zahl getötet, gefangengenommen oder schliessen sich bewaffneten Gruppierungen an. So wird beispielsweise jede sechste Familie in den Rohingya-Flüchtlingslagern in Bangladesch von einer Frau geführt.
Bei Frauen, die sich allein um ihre Familien kümmern müssen, sinkt die Chance auf ein eigenes Einkommen. Auch geniessen sie weniger Schutz und werden oft von wichtigen Entscheidungsprozessen in ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Dazu kommt, dass viele von ihnen mit ihrer Trauer und ihren Traumata alleine gelassen werden.
«Seit mein Mann gestorben ist, muss ich meine Kinder selbstständig ernähren, mich um ihre Schulbildung kümmern und dafür sorgen, dass sie einen sicheren Platz zum Schlafen haben. Nicht immer kann ich ihnen etwas zu essen geben. Zwar verkaufe ich Tee auf dem Markt. Aber wenn das Geschäft schlecht läuft, müssen meine Kinder abends hungrig ins Bett.»
2. Keine medizinische Unterstützung für schwangere Frauen
Ein Baby auf die Welt zu bringen und es zu versorgen, gehört zu den grössten Herausforderungen überhaupt – sogar in Ländern, die ein gutes Gesundheitssystem haben. Für Frauen, die auf der Flucht sind oder in Ländern leben, in denen medizinische Leistungen unzugänglich oder unbezahlbar sind, kann eine Entbindung lebensgefährlich werden. 60 Prozent aller Todesfälle bei werdenden Müttern ereignen sich an Orten, die von Kriegen und Katastrophen geprägt sind.
Ich bin dankbar, dass wir zufällig für Angeline und ihr Baby da waren, aber leider ist diese Geschichte eine Ausnahme. Schlechte Infrastruktur, Entfernung zu funktionierenden Gesundheitseinrichtungen, Unsicherheit, schlechte Hygienepraktiken und unzureichende Verkehrsdienste verunmöglichen schwangeren Frauen in Krisengebieten in der Regel eine angemessene Gesundheitsversorgung.
Während meiner Zeit als Projektleiterin im Südsudan passierte unser Notfallteam auf dem Weg zu unserem Einsatzgebiet eine Frau, die am Wegrand kauerte. Sie hiess Angeline – und lag in den Wehen. Da das nächste Spital zu weit entfernt war, half unsere Hebamme der Frau an Ort und Stelle. Mitten im hohen Gras gebar diese ein gesundes Töchterchen. Ich bin froh, dass wir rechtzeitig zur Stelle waren, um Angeline und ihr Baby während der Geburt unterstützen zu können. Leider haben die meisten Frauen dieses Glück nicht.
3. Frauen werden oft Opfer von Gewalt
Wenn Kriege soziale Strukturen zerstören, haben Frauen ein erhöhtes Risiko, Opfer von sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden. Auf der Flucht sind sie besonders anfällig dafür. Rund 20 Prozent der Flüchtlingsfrauen haben sexuelle Gewalt erlebt (Global Humanitarian Overview 2019). Dabei wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da viele Fälle gar nicht erst gemeldet werden. Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt hinterlassen tiefe Spuren bei den betroffenen Frauen – in körperlicher und psychischer Hinsicht.
4. Frauen haben oft tiefe psychische Verletzungen – und keinerlei Hilfe
Seelische Wunden sind von aussen nicht sichtbar. Doch wenn ein geliebtes Familienmitglied stirbt oder Frauen gezwungen werden, ihr Zuhause zu verlassen, hat das schwerwiegende Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit. Allein schon mit dem Alltag klarzukommen, ist für viele Vertriebene ein täglicher Kampf. Dazu sind viele von ihnen schwer traumatisiert, weil sie Zeuginnen von Gräueltaten geworden sind, sexuellen Missbrauch erlebt haben oder misshandelt wurden.
Haleema, eine Flüchtlingsfrau aus Syrien, nimmt an unserem psychosozialen Programm in Jordanien teil. Sie beschreibt ihr Ergehen, nachdem ihr Dorf bombardiert wurde: «Nach dem Bombenangriff änderte sich mein Leben von Grund auf. Ich schaffte es nicht, das schreckliche Erlebnis aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich wurde aggressiv und schrie meine Kinder andauernd an. Irgendwann entschied ich, nach Jordanien zu fliehen. Dort wartete zwar mein Mann auf uns. Doch dafür musste ich meine Heimat zurücklassen, das einzige Land, dass ich je gekannt hatte – ein Land aber, dass uns keinerlei Sicherheit mehr bieten konnte.»
5. Von Nothilfeprogrammen für Frauen profitiert die gesamte Gemeinschaft
Frauen und Mädchen sind überproportional oft von Krisen betroffen. Doch allzu oft werden sie nur als Opfer angesehen. Untersuchungen zeigen, dass es einer ganzen Gemeinschaft zugute kommt, wenn sich humanitäre Hilfsmassnahmen gezielt an Frauen richten (UN Women 2015). Aus diesem Grund arbeitet Medair mit Selbsthilfegruppen: Frauen bilden Netzwerke und fördern aktiv positive Verhaltensänderungen in ihren Gemeinschaften. Die Gruppen von zehn bis zwölf Frauen treffen sich regelmässig, um an Schulungen zu den Themen Gesundheit, Ernährung und Hygiene teilzunehmen. Anschliessend gehen die ausgebildeten Frauen in ihren Dörfern von Tür zu Tür, um die wichtigen Informationen aus den Trainings an ihre Nachbarn weiterzugeben und deren Gesundheitszustand zu überprüfen. Ein positiver Wandel vollzieht sich durch den Einsatz dieser Frauen auf Gemeinschaftsebene – und gleichzeitig leisten wir auf diese Weise Hilfe zur Selbsthilfe. Wie wichtig es ist, Frauen ins Zentrum der humanitären Hilfe zu rücken, das geht meiner Meinung nach aus diesem Beispiel deutlich hervor.
Wie Medair Frauen gezielt unterstützt
Der Auftrag von Medair ist es, die bedürftigsten Menschen weltweit mit hochwertigen humanitären Leistungen zu versorgen. Unsere Programme legen daher einen starken Schwerpunkt darauf, Frauen und ihren Kindern zu helfen, Krisen in Würde zu überstehen. Wir bieten medizinische Versorgung für Schwangere und junge Mütter an. In unseren psychosozialen Programmen helfen wir Frauen, die Gewalt erfahren haben, aus einer passiven Opferrolle heraus zu kommen und stärken sie darin, zu selbstbestimmten Überlebenden zu werden. Auch unsere Schulungen richten sich ganz gezielt an Frauen. Hier erlernen sie neue Fähigkeiten, mit welchen sie eigene Einkünfte generieren können. Auserdem helfen wir ihnen, Selbsthilfegruppen zu gründen, die positive Verhaltensänderungen in ihrer Gemeinschaft vorantreiben. Diese Herangehensweise kommt Hunderttausenden Frauen und Kindern zugute und hilft ihnen, eine bessere Zukunft aufzubauen.
Eine Frau aus einer unserer Selbsthilfegruppe berichtete uns von ihren Erfahrungen: «Wir sind alle nur Hausfrauen und Mütter. Wegen dem Krieg konnten wir nicht in die Schule gehen. Durch die Schulung von Medair habe ich realisiert, dass ich in meiner Familie dennoch eine grosse Bedeutung habe. Mit meinem neuen Wissen über Hygiene kann ich zum Beispiel aktiv Ansteckungen vermeiden. Seither sind meine Kinder viel seltener krank. Ich hätte nie gedacht, dass ich so einen wichtigen Einfluss auf meine Umgebung ausüben kann.»
Genau darum geht es uns bei Medair. Wir wollen Leben retten – aber unsere Hilfe umfasst so viel mehr. Frauen sollen durch unsere Arbeit in schweren Zeiten ihre Würde bewahren können. Jede einzelne von ihnen soll am eigenen Leib erfahren dürfen, wie wertvoll sie ist und wie viel sie persönlich in ihrer Gemeinschaft bewirken kann.