BEIRUT - AUGUST 2024
Angesichts der Befürchtung, dass sich der Konflikt weiter ausbreiten könnte, fordern die Botschaften in Beirut Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit auf, den Libanon zu verlassen. Die britische Regierung hat mehr als 1 000 Militärangehörige in Bereitschaft versetzt, falls britische Staatsbürger evakuiert werden müssen.
Anna Chilvers, britische Staatsbürgerin und Medair-Landesdirektorin für den Libanon, berichtet aus erster Hand über die Lage vor Ort, in einer Zeit, in der die humanitären Bedürfnisse kontinuierlich steigen.
«Ich leite das Medair-Team im Libanon seit fast fünf Jahren. In dieser Zeit haben wir auf die syrische Flüchtlingskrise, den wirtschaftlichen Zusammenbruch, COVID-19, die Explosion in Beirut, einen Choleraausbruch und jetzt auf den eskalierenden Konflikt im Gazastreifen reagiert. Es war eine schwierige Zeit für das Land, aber es ist klar, dass das Risikoniveau jetzt höher ist als zu jedem anderen Zeitpunkt während meiner Zeit hier.
Der Alltag fühlt sich derzeit ein wenig seltsam an, als würden wir in zwei parallelen Realitäten leben. In der einen arbeiten wir an Reaktionsplänen für eine Reihe von Szenarien und bereiten uns auf das vor, was passieren könnte. In der anderen geht das Leben ganz normal weiter. In diesem Moment beobachte ich einige Kinder, die vor meinem Fenster spielen, und geniesse die schöne Aussicht auf die Berge im Bekaa-Tal. Ein Teil der Notfallvorsorge besteht darin, beides miteinander in Einklang zu bringen und die Notwendigkeit und Realität von beidem anzuerkennen.
Wichtig ist, dass wir nicht weggehen. Wenn die Bedürfnisse zunehmen, steigt auch der Bedarf an unserer Präsenz. Aber das bringt auch Risiken mit sich. Eine meiner ständigen Sorgen ist es, die Balance zwischen der Bereitstellung von Hilfe und der Gewährleistung der Sicherheit meines Teams zu finden. Kürzlich waren zwei meiner Kollegen nur 250 Meter von einem Luftangriff im Bekaa-Tal entfernt.
Es ist ein Privileg, ein so grossartiges, grossherziges Team zu leiten, das entschlossen ist, anderen zu helfen, und das zu einer Zeit, in der viele von ihnen und ihre Familien ebenfalls direkt betroffen sind.»
Reaktion auf die Bedürfnisse der Binnenvertriebenen
Die zunehmenden Spannungen sind am stärksten in den Grenzgebieten des Landes zu spüren, wo es seit Oktober letzten Jahres über 6000 grenzüberschreitende Angriffe (meist Luftangriffe) gegeben hat. Familien fliehen weiterhin in andere Teile des Landes, die sie für sicherer halten, und gemäss Schätzungen des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) waren in dieser Zeit fast 100 000 Menschen aus den südlichen Grenzgebieten gezwungen, ihre Häuser zu verlassen.
«Jeder Mensch, den wir treffen, hat eine Geschichte zu erzählen. Die Menschen haben ihre Häuser und ihre Lebensgrundlage verloren. Viele sind verängstigt über die aktuelle Situation und die Zukunft», sagt Anna.
Medair in Beirut: Cash-for-Shelter-Initiative
In den südlichen Vororten von Beirut hat Medair eine «Cash-for-Shelter»-Initiative (zu Dt. «Bargeld für Unterkünfte») für Menschen ins Leben gerufen, die auf der Suche nach Sicherheit aus ihren Häusern in der Grenzregion geflohen sind. Im Rahmen des im Mai 2024 gestarteten Programms haben wir bisher 570 Haushalte geprüft und mit Bargeld unterstützt.
Anna fährt fort: «Es ist schwer, nicht von den Geschichten der Familien bewegt zu sein, die die schwierige Entscheidung getroffen haben, aus ihren Gemeinschaften zu fliehen, von denen viele zerstört wurden. Die Umsiedlung und die Anpassung an die neuen Gegebenheiten sind mit allen möglichen Herausforderungen verbunden. Die Menschen lassen einen Ort zurück, an dem sie Zugang zu medizinischer Versorgung, Medikamenten und Ärzten, die ihre Krankengeschichte kennen, haben. Sie kommen an einen Ort, an dem die Kosten für Miete, Lebensmittel, Strom und Wasser viel höher sind.»
Die Geschichte von Zeina
Eine der rund 100 000 Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit aus ihrer Heimat geflohen sind, ist Zeina (28). Im Foto befindet sie sich mit ihren beiden Söhnen in einer Unterkunft, in der Medair Reparaturen durchgeführt hat.
Sie erzählte uns: «Es war nach Mitternacht. Meine Familie und ich schliefen noch. Es fühlte sich an, als wäre alles innerhalb eines Wimpernschlages passiert. Der Boden unter unserem Haus bebte, als wir eine gewaltige Explosion hörten. Ich erinnere mich, dass ich instinktiv aus dem Bett sprang und zu meinen Kindern eilte, überwältigt von Schreien und Tränen. Das Echo der Explosionen hallte draussen weiter, synchron mit Blitzen, die die ganze Gegend erhellten. Wenn ich mir das jetzt noch einmal vor Augen führe, möchte ich einfach nur weinen.
«Nach dem Trauma und der Ungewissheit, aus unserer Heimat zu fliehen, sind wir in einen anderen Teil des Landes umgesiedelt. Acht weitere Familien aus unserer südlichen Region, die auch geflohen sind, haben sich vorübergehend hier niedergelassen, in der Hoffnung, eines Tages zurückzukehren. Wir legen gemeinsam unser Geld zusammen, um die wichtigsten Lebensmittel zu kaufen, die uns mit zwei Mahlzeiten pro Tag versorgen. Jeden Tag bete ich. Möge Gott uns helfen.»
MEDIENANFRAGEN
Bitte richten Sie Ihre Medienanfrage an:
- Medair-Team Deutschschweiz. schweiz@medair.org
- Jean-Bernard Palthey, Leiter Engagement. jean-bernard.palthey@medair.org (Englisch und Französisch)
- Abdul Dennaoui, Kommunikation, Medair Libanon. abdul.dennaoui@medair.org
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Medair - ein Jahrzehnt lebensrettende Hilfe im Libanon
Medair unterstützt vertriebene Familien und trifft gemeinsam mit der gesamten humanitären Gemeinschaft Notfallvorbereitungen, um den zu erwartenden Bedarf aufgrund der zukünftigen Vertreibung zu decken.
Medair verwaltet und betreibt ein Warenlager im Bekaa-Tal, in dem Hilfsgüter vorrätig sind, darunter Unterkünfte (z.B. Zelte, Planen), grundlegende Hilfsgüter (z.B. Matratzen und Decken) und Medikamente.
Medair führt in Beirut ein Bargeldhilfeprojekt durch, in dessen Rahmen wir neu vertriebene Menschen identifizieren, ihren Anspruch auf Unterstützung evaluieren und diese Familien finanziell unterstützen. Derzeit unterstützen wir 570 Haushalte. Das Medair-Team verteilt auch Sachspenden an vertriebene Familien. Ein Paket enthält Decken, Matratzen, Schlafmatten, Kanister und ein Küchenset.
Medair schult Mitarbeitende, die an vorderster Front tätig sind, in unterstützender Kommunikation und psychologischer Erster Hilfe (PFA). Für die Betroffenen bieten wir weiterhin Peer-Selbsthilfegruppen für Erwachsene und Jugendliche an, um den zunehmenden psychischen Problemen zu begegnen.
Medair unterstützt aktiv zwei Gesundheitszentren in unterversorgten Gebieten, um vertriebenen Familien den Zugang zur medizinischen Grundversorgung zu ermöglichen. Wir verfügen über einen Vorrat an Medikamenten und arbeiten mit dem Gesundheitsministerium im Libanon zusammen.
Medair hat in Baalbek Unterkünfte renoviert, um die vertriebenen Familien aus dem Süden unterzubringen.
Aktuelle Krise - Update
Seit dem 7. Oktober 2023 kommt es an der südlichen Grenze des Libanon regelmässig und zunehmend zu Auseinandersetzungen.
Aufgrund der anhaltenden sozioökonomischen Krise ist der Libanon nicht in der Lage, die wachsende Zahl von Vertriebenen aufzunehmen. Das Land beherbergt bereits 1,5 Millionen syrische und 457 000 palästinensische Geflüchtete.
Dreizehn Jahre nach dem Ausbruch des Konflikts in Syrien ist der Libanon immer noch das Land mit dem höchsten Anteil an Geflüchteten weltweit (UNHCR 2024).
Nach Angaben des Welternährungsprogramms wird die Zahl der Menschen im Libanon, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, voraussichtlich von 19% der Bevölkerung im März 2024 auf 23% im September 2024 ansteigen - das entspricht 1,26 Millionen Menschen (WFP 2024).
Schätzungsweise 80% der Libanesinnen und Libanesen leben in Armut, wobei 36% unter der Grenze zur extremen Armut liegen.
90% der syrischen Geflüchteten im Libanon sind nicht in der Lage, ihre Grundbedürfnisse zu decken.
Über Medair
Wir sind eine in der Schweiz gegründete, international tätige humanitäre Hilfsorganisation. Seit 1989 reagieren wir auf Krisen, Katastrophen und Krankheitsausbrüche in der ganzen Welt, um Leben zu retten und menschliches Leid in einigen der abgelegensten und am stärksten zerstörten Regionen der Welt zu lindern.
Heute haben wir weltweit über 1500 Mitarbeitende. Seit unserer Gründung haben wir mehr als 50 Millionen Menschen in 40 Ländern mit humanitärer Hilfe erreicht.
Derzeit sind wir in folgenden Ländern im Einsatz: Afghanistan, DR Kongo, Jordanien, Kenia, Libanon, Madagaskar, Somalia, Südsudan, Sudan, Syrien, Tschad, Türkiye, Ukraine und Jemen.
Was wir bieten
- Vermittlung kompetenter Medair-Gesprächspartner, die Ihren Artikel bereichern können.
- Einblicke und Einschätzungen der Lage vor Ort und der humanitären Situation im Land.
- Aussagekräftige Fotos der humanitären Arbeit im Land.
Sechs Dinge, die Sie über Medair wissen sollten
- Wir waren die erste internationale NGO, die in Kiew registriert wurde, um nach dem Ausbruch des Konflikts in der Ukraine am 24. Februar 2022 humanitäre Hilfe zu leisten.
- Wir sind in sieben der zehn vom INFORM-Risikoindex der EU gelisteten Ländern mit dem grössten humanitären Bedarf vertreten.
- Auf die Erdbeben in der Türkei und in Syrien am 6. Februar 2023 reagierten wir innerhalb von 24 Stunden.
- In Afghanistan sind wir seit 1996 tätig. Wir sind eine der wenigen NGO, die Erfahrung in der Zusammenarbeit mit den De-facto-Behörden haben und dank diesen Beziehungen in der Lage sind, Hilfsleistungen auch weiterhin fortzusetzen.
- Wir haben seit dem Ausbruch des Konflikts im Sudan am 15. April 2023 ohne Unterbruch humanitäre Hilfe geleistet und unsere Hilfsmassnahmen auf neue Regionen ausgeweitet.
- «Auch wenn die Strasse endet, macht Medair weiter.» Mit diesem Satz hat uns eine andere NGO beschrieben. Er drückt unser Engagement für Menschen aus, die aufgrund der Sicherheitslage, des Geländes oder fehlender Strassen schwer zu erreichen sind und deshalb Gefahr laufen, von der humanitären Hilfe vernachlässigt zu werden.