Langsamer Wiederaufbau in der Ukraine
Svitlana ist 57 Jahre alt und Chefärztin des Zentrums für medizinische Grundversorgung (Primary Health Care Center) in Trostjanez, einer Kleinstadt mit 20 000 Einwohnern, 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ihr Büro ist sehr ordentlich gehalten, und riecht nach Medizin. Am Fenster stehen mehrere Blumentöpfe und an der Wand hängt der Asklepiosstab. Zunächst lächelt sie und scherzt, aber als wir über die letzten Monate sprechen, beginnt ihre Stimme zu zittern.
«Am 24. Februar war ich auf dem Weg zur Arbeit, als mein Telefon klingelte. Es war meine Kollegin. Sie sagte, dass der Konflikt begonnen habe», sagt Svitlana. «Mir war bewusst, dass es jederzeit so weit sein konnte, aber ich weigerte mich, es zu glauben. Ich fing an, schneller zu laufen, und plötzlich sah ich mehrere Panzerkolonnen auf der Strasse, tote Soldaten, die auf der Strasse lagen, und Familien, die in ihren Autos erschossen worden waren. Es war so furchtbar beängstigend! Ich rannte sofort zum Gesundheitszentrum, wo meine Teammitglieder alle Medikamente und Geräte zusammensuchten, damit wir den Menschen helfen und Leben retten konnten. Wir beschlossen, dass die Ärzteschaft von nun an von zu Hause aus arbeiten würde», sagt Svitlana.
Svitlana und die anderen haben nie daran gedacht, Trostjanez zu verlassen. «Wir konnten die Menschen nicht ohne medizinische Versorgung im Stich lassen. Da dies gleich am ersten Tag des Konflikts geschah, hatte niemand genug Zeit, um zu flüchten. Ich wollte nicht einmal versuchen, von hier wegzugehen, weil ich wusste, dass ich hier sein muss, dass ich hier gebraucht werde», sagt Svitlana und schaut aus dem Fenster.
Svitlana hält inne, bevor sie ihre Geschichte fortsetzt. Es gab so viele Panzer, dass sie aufhörte, sie zu zählen. Es gab keine Lebensmittellieferungen mehr in die Stadt; die Leute teilten untereinander, was sie hatten. Familien blieben aus Angst in ihren Häusern, aber Svitlana und der Rest ihres Kollegiums gingen weiterhin raus; ihre Entschlossenheit half ihnen, jede Furcht zu überwinden.
«Wir wussten nicht, wie wir Menschen helfen sollten, die unbedingt Insulin brauchen. Eine Apotheke in der Nähe des Bahnhofs war während der Kämpfe beschädigt worden, und plötzlich kam mir eine verrückte Idee.»
Nachdem sie die Erlaubnis des Besitzers der Apotheke eingeholt hatten, schlichen sich Svitlana und die anderen in das zerstörte Geschäft. Sie nahmen alle Medikamente und Windeln mit, die sie finden konnten. Allerdings hielten die Medikamente nicht lange. Schlussendlich starben Menschen.
«In unserer Klinik konnten wir auch Neugeborene mit ihren Müttern medizinisch betreuen. Um sie machte ich mir am meisten Sorgen. Da gab es zwei junge Mütter, die eigentlich nicht in Trostjanez lebten. Sie hatten hier nur ihre Kinder zur Welt gebracht. Diese Frauen liefen mit ihren neugeborenen Kindern 6 Kilometer zu uns, weil es keine Busse gab. Es war gefährlich, sich in der Stadt zu bewegen, weil man jeden Augenblick von Bomben getroffen werden konnte. Ich habe die ganze Zeit gebetet, dass sie sicher nach Hause kommen.»
Nachdem die Kämpfe in Trostjanez vorbei waren, begannen Svitlana und die anderen Fachleute, die Schäden an den Gesundheitseinrichtungen zu prüfen. Fast alle Gebäude waren beschädigt. Die Fenster der Röntgenstation waren alle zerbrochen und das Dach war eingestürzt. Schmelzender Schnee hatte eine Überschwemmung verursacht. Die Reparaturen haben nun begonnen und Svitlana fragt uns, ob wir den Fortschritt sehen möchten.
Wir gehen zu einem gelben zweistöckigen Gebäude, das vom Fenster von Svitlanas Büro aus zu sehen war. Jetzt verstehe ich, warum sie während unseres Gesprächs immer wieder aus dem Fenster schaute. Voller Stolz öffnet sie die Tür und bittet uns herein.
«Als die Kinderambulanz zerstört wurde, blieben 5000 Kinder in diesem Gebiet ohne medizinische Versorgung zurück. Das Gebäude lag in Trümmern. Wir haben uns entschieden, dieses Gebäude neu aufzubauen und hier eine Kinderambulanz einzurichten. Als Medair uns dabei Hilfe zusagte, ging ein Traum in Erfüllung. Endlich können unsere Fachkräfte die Kinder unter angemessenen Bedingungen behandeln», sagt Svitlana.
Das Shelter-Team von Medair reparierte das Dach, ersetzte die Fenster und stellte die Heizung im Gebäude wieder her. Büroausstattung und medizinische Geräte wurden angeschafft, und bald wird das Spital eröffnet und kann Menschen aufnehmen, die medizinische Hilfe benötigen. Svitlana träumt jetzt vor allem vom Frieden. Sie will ohne Bomben leben, die zerstören, was sie und andere Gemeindemitglieder jahrelang mit Herzblut aufgebaut haben.
Die Arbeit von Medair in der Ukraine wird von PMU und der Glückskette gefördert.
Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.