Libanon: Notzustand
Hassan, ein 41-jähriger libanesischer Geflüchteter, ist sichtbar angeschlagen. "Es gab Luftangriffe in der Nähe unseres Hauses im Süden", erzählt er. "Ich konnte es nicht länger riskieren, mit meiner Familie dort zu bleiben. Ich musste für ihre Sicherheit sorgen. Das Geräusch der Luftangriffe war entsetzlich, und zum ersten Mal sah ich, wie verängstigt die Kleinen waren. Wie schafft man es als Vater, dass die Kinder keine Angst haben? Ich fühle mich hilflos. Es gibt keine Möglichkeit, sie davor zu schützen. Unsere Gegend ist stark betroffen. Viele Familien haben bereits ihre Häuser verloren.”
Die Lage im Libanon ist alarmierend schlecht. In den letzten Wochen wurde das Land von heftigen Luftangriffen auf Dörfer und Städte heimgesucht, die teilweise bis zu fünf Stunden andauerten. Sie verursachten grosse Zerstörung und forderten zahlreiche Menschenleben. Dies ist eine der schlimmsten Eskalationen seit vielen Jahren. Das Land hat bereits mit einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise zu kämpfen und beherbergt 1,5 Millionen Geflüchtete. Nun hat es zusätzlich mit über 1,2 Millionen neuen Binnenvertriebenen zu kämpfen. Die Zerstörung der Infrastruktur und die Ressourcenknappheit behindern die Hilfsbemühungen und haben Auswirkungen auf Millionen von Menschen.
Nach der Eskalation des Konflikts am 23. September 2024 hat sich die allgemeine Sicherheitslage im Libanon erheblich verschlechtert. Nicht nur im Süden, sondern auch im Bekaa-Tal und in der Hauptstadt Beirut sind die Menschen vor Angst aus ihren Häusern und in andere vermeintlich sicherere Gebiete geflohen. Oft haben sie nur die Kleider am Leib und einige wenige Habseligkeiten mitnehmen können. In ihrer verzweifelten Suche nach Sicherheit haben sie an Stränden, in öffentlichen Gärten und an anderen Orten in der Umgebung der Stadt provisorische zeltartige Unterkünfte aus Plastikplanen und zusammengebundener Kleidung errichtet. Viele Familien haben auch Zuflucht in Schulen gesucht, die zu Sammelunterkünften umfunktioniert wurden. Was einst ein Ort des Lernens und Spielens für Kinder und Jugendliche war, ist nun ein Zufluchtsort für vertriebene Familien geworden.
Schätzungen zufolge sind zudem über 400 000 Menschen aus dem Libanon in das benachbarte Syrien geflüchtet. Dazu gehören sowohl Syrerinnen und Syrer, die vor dem Bürgerkrieg aus ihrer Heimat in den Libanon geflüchtet waren und nun wieder zurückkehren, als auch Libanesinnen und Libanesen.
Für die Menschen im Libanon hat sich der Alltag stark verändert. Luftangriffe ereignen sich immer noch häufig und die Ungewissheit über ihr Eintreffen zerrt an den Nerven der Menschen. Die Bewohner in den von Luftangriffen betroffenen Gebieten müssen mit ansehen, wie Gebäude einstürzen und Dörfer entvölkert werden. Strassen sind oft überlastet, weil die Menschen versuchen, in sicherere Gebiete zu fliehen. Familien, die nicht nach Hause zurückkehren können, sind aufgrund des Verlusts ihrer Lebensgrundlage weniger in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Der Bedarf an humanitärer Hilfe steigt, während das Ausmass der Verwüstung den Zugang zu grundlegenden Diensten unterbricht und die Bereitstellung von Hilfe für die Betroffenen behindert. Die Situation führt in allen Bevölkerungsgruppen zu erhöhtem Stress, Angst und Unsicherheit über die Zukunft. Weitere Zerstörungen und ein grösserer Konflikt sind zu befürchten.
Auch unsere Mitarbeitenden und ihre Familien sind von der Situation stark betroffen, denn viele von ihnen leben im Bekaa-Tal, wo Medair aktiv Hilfe leistet. Trotz der gefährlichen Umstände arbeiten sie unermüdlich weiter, um den Menschen in Not zu helfen. Es ist eine schwere emotionale Belastung, das Leid ihrer Kinder und Kollegen sowie die immense Zerstörung ihrer Gemeinden mit ansehen zu müssen.
"Meine Familie und ich fühlen uns nirgendwo mehr sicher. Meine Kinder haben Angst, und ich weiß nicht, wie ich sie schützen soll. Die Luftangriffe auf das Bekaa-Tal dauerten fünf Stunden lang ununterbrochen an und füllten das Gebiet mit dicken schwarzen Rauchwolken. Ich versuche, meinen Kindern zuliebe ruhig zu bleiben, aber das ist unmöglich, vor allem, weil ständig Flugzeuge über uns zu hören sind”, berichtet einer unserer Medair-Kollegen, der im Bekaa-Tal lebt.
Medair ist vor Ort und kümmert sich um die Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung im Bekaa-Tal und im Libanongebirge. Seit dem 23. September hat Medair mit finanzieller Unterstützung des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) über 9000 Matratzen und Decken an die vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen verteilt. 114 Verteilaktionen wurden durchgeführt, die meisten davon in Sammelunterkünften.
Darüber hinaus haben wir mit der Durchführung notwendiger Reparaturen in den Sammelunterkünften begonnen, mit dem Ziel, den dort untergebrachten Familien ein Leben in Würde und mit Privatsphäre zu ermöglichen. Beispielsweise wurden Duschen und Trennwände eingebaut, Türgriffe repariert oder Fenster ausgetauscht. Insgesamt haben wir 114 Unterkünfte geprüft. In 23 Gebäuden sind Reparaturarbeiten im Gange und in 8 Gebäuden sind die Reparaturarbeiten bereits abgeschlossen.
Um den Menschen in den Notunterkünften psychologische Unterstützung zu bieten, haben wir auch Freiwillige in der psychologischen Ersten Hilfe geschult. Schliesslich bauen wir unsere medizinische Versorgung aus. Wir hatten bereits zwei Gesundheitszentren und werden vier weitere hinzufügen. Ausserdem setzen wir mobile Kliniken an Orten ein, an denen es keine oder nur eine unzureichende medizinische Versorgung gibt.